Angst

Angst

2. Februar 2010 Aus Von Victoria Schwartz

November 2001
Der dunkelhaarige Mann steigt in den vollbesetzten Bus Nr. 109. Er trägt eine seltsam ausgebeulte Jacke und hält mit seinen Händen etwas darunter befindliches fest. Sein überdimensionaler Vollbart scheint seit Jahren nicht gestutzt worden zu sein. Um den Hals trägt er diverse Schlüsselbänder mit eingewebter Schrift: IRAN, PALÄSTINA, ARABIA, SYRIEN, LIBYEN, TÜRKEI. Er wirkt fahrig, schaut sich verstohlen immer wieder nach allen Seiten um.

Die anderen Fahrgäste werden nervös, die Gespräche verstummen. Sie tauschen verunsicherte Blicke aus und rascheln mit ihren Zeitungen, in denen vor der Terrorgefahr in Deutschland gewarnt wird.

Der Mann torkelt bedenklich. Da er die Arme um seinen Körper geschlungen hält, kann er sich nirgendwo festhalten.
Eine Vollbremsung wirft ihn fast um. Er prallt gegen eine junge Frau, die sich mit einem leisen Aufschrei in den hinteren Teil des Busses flüchtet.
In der entstandenen Stille bekommen die Laute, die der Mann plötzlich von sich gibt, eine ganz andere Dimension. Sie schwellen an, erfüllen das ganze Fahrzeug. Fast singend scheint er etwas zu rezitieren. Das einzig verständliche und sich immer wieder wiederholende Wort: Allah. Allah. Allah.

Nun kennen die Menschen im Bus kein Halten mehr. Jeder versucht, so unauffällig wie möglich in Türnähe zu gelangen, um bei der nächsten Station auszusteigen.

Der Mann beginnt zu Lachen. Er lacht aus vollster Kehle. Dunkel und wild. Die Menschen in seiner Nähe weichen zurück.

Eine alte Dame ruft nach vorne zum Busfahrer: „Halten Sie sofort an! Schnell! Wir wollen aussteigen!“
Der Mann guckt sie interessiert an. Dann sagt er: „Hass du Angss vor mir? Du muss nicht haben.“
Die Dame nimmt all ihren Mut zusammen: „Und was ist das da unter ihrer Jacke?“
Er guckt an sich herunter und beginnt wild zu kichern. Umständlich, damit nichts herunterfällt, holt er den Inhalt seiner Jacke hervor. In der einen Hand hält er eine halb volle Flasche ‚Kleiner Feigling‘, in der anderen eine mit Apfelkorn. „Fahr ssu mein Freund. Bisschen trinke, weiss du? Feigling schmeckt gut. Wills du?“

Die Spannung, die eben noch den Bus erfüllte, ist mit einem Schlag einer Erleichterung gewichen, wie sie nur Menschen haben können, die meinen, knapp dem Tod entronnen zu sein. Fremde lachen sich an, lassen sich wieder auf die Bänke plumpsen, Zeitungen werden wieder aufgeschlagen.

Bei der nächsten Station steigt der Mann aus. In der Tür dreht er sich noch einmal um, bleibt stehen und winkt. Geschlossen rufen die anderen Fahrgäste: „Tschühüss!“